Tod eines Räubers

Wenn ein Wolf stirbt, beginnt die Ermittlungsarbeit: Natürlicher Tod oder Wilderei? Das Verfahren sagt viel über das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Wolf.

Text: Johannes Mitterer, erschienen in Die ZEIT 43/2023

Stirbt in Deutschland ein Wolf, dann ist das für manche ein Grund zur Erleichterung, für manche Anlass zur Trauer. Und für andere ist es vor allem: viel Arbeit. Und so machen sich an einem Dienstagmorgen die Wolfsexperten Andreas Berbig und Katharina Riemann eine Autostunde östlich von Magdeburg auf den Weg, einen toten Wolf aus einem Graben zu bergen. Berbig leitet das Wolfskompetenzzentrum Iden, eine Außenstelle des Landesamts für Umweltschutz Sachsen-Anhalt. Seine Kollegin Riemann kümmert sich eigentlich um die Büroarbeit, springt aber auch gelegentlich im Außendienst ein.

Ein Jäger führt sie zum Fundort. Er hat tags zuvor den toten Wolf gemeldet. Er hat auch ein Foto geschickt. Aus einigen Metern Entfernung aufgenommen, zeigt es den breiten Rücken eines Tieres, das quer in einem Graben liegt. Dichtes, leicht filziges graues Fell ist zu erkennen. Der Rest des Körpers ist im pechschwarzen Wasser versunken.

Im Schnitt wird alle zweieinhalb Tage in Deutschland ein toter Wolf gefunden und noch öfter einer gemeldet. “Wir wurden auch schon an eine Autobahn gerufen”, sagt Berbig, “und dann lag da ’ne Decke.” Bei jeder Meldung rücken Wolfsexperten aus, um zwei Fragen zu klären. Liegt da wirklich ein Wolf? Und wenn ja: Wie ist das Tier zu Tode gekommen?

Die Statistik besagt, dass die meisten Wölfe von Autos getötet werden, manche sterben an Krankheiten oder Verletzungen. Einige werden aber auch von Wilderern erschossen. Die Bergung ist also nicht nur wichtig, um zu überwachen, woran die deutschen Wölfe erkranken. Sie ist auch wichtig, um zu klären, ob eine Straftat begangen wurde. Wölfe sind streng geschützt, die Bergung ist der erste Schritt der Beweisaufnahme. Und dieser Wolf liegt weitab von jeder Straße in einem Graben. Das wirft Fragen auf.

Die Wolfsexperten reisen auch mit einer Sorge an. Was, wenn der Wolf schon so aufgeweicht ist, dass er bei der ersten Berührung platzt? Sie wollen es mit einer Wildwanne und einer Art selbst gebautem Enterhaken versuchen. Berbig zieht eine rote Regenjacke an, Gummihandschuhe und eine grüne Wathose, in die er wenig Vertrauen zu stecken scheint. “Die liegt seit 20 Jahren im Keller, ich hoffe, die ist dicht.” Dann stapft er durch Brennnesseln hinab in den Graben, kämpft sich durch den Schlamm bis zum Kadaver. Bei jedem Schritt schmatzt der Graben laut. Dort angekommen, packt er das Tier am Rücken, zieht und hält sogleich ein Büschel Fell in der Hand. Ein zweiter Griff, ein Schwarm Fliegen schwirrt auf, aber diesmal hält das Fell. Nach und nach wuchtet Berbig den Kadaver in die Wildwanne. Der Wolf platzt nicht.

Mit zwei Gurten ziehen Riemann und der Jäger die Wanne aus dem Graben und nach oben auf die Wiese. Etwa 15 Minuten hat die Aktion gedauert. Erster Eindruck? Länglicher Kopf, sieht nach Wolf aus. Groß ist er, wahrscheinlich schon älter. Hoden waren kurz zu sehen, “ein Männchen”, bemerkt der Jäger, und zwei lange, gelbe Fangzähne. Eine mächtige Pfote hängt über den Rand der Wanne, am Bauch hat sich das Fell schon abgelöst. Ansonsten erkennt man wenig, auch keine Schusswunden. Und den Wolf jetzt noch drehen und wenden, das möchte niemand. Er wird ja sowieso noch obduziert werden. Während sich Berbig deshalb mit Spekulationen zur Todesursache zurückhält, ist sich der Jäger schon sicher: “Geschossen worden”, sagt er, sei dieser Wolf bestimmt nicht.

Weil man da jetzt vor Ort nicht weiterkommt, dreht sich die Debatte an diesem Waldrand in Sachsen-Anhalt nicht mehr um diesen einen Wolf, sondern um alle Wölfe. Weil die Frage, was diesen Wolf umgebracht haben könnte, im Kopf mancher Menschen direkt zu der Frage führt, wer oder was ihn vielleicht besser hätte umbringen sollen. Der Jäger jedenfalls, wenngleich er seine eigene Meinung dazu lieber nicht öffentlich äußern möchte, treffe in seinem Umfeld einige Leute, die meinten: Ja, Wölfe sollten stärker bejagt werden.

Und diese Stimmen werden lauter, bundesweit. Aufsehenerregende Nutztierrisse bestärken sie. Wie der bei Stade in Niedersachsen Ende August: 55 Schafe fielen da einem Wolfsangriff zum Opfer. Ebenso die Statistik: 1135 Übergriffe auf Nutztiere gab es 2022, im Jahr davor waren es noch 975.

Auch auf politischer Ebene scheint sich diese Meinung langsam durchzusetzen. Gleich mehrere Spitzenpolitiker haben zuletzt den Eindruck erweckt, dass in Deutschland der Finger bald schon lockerer am Abzug liegen könnte. Die Frage ist: Wie locker genau – und was kann das bringen?

Der neueste Vorstoß stammt von Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne). Sie hatte Anfang September versprochen, dass Wölfe künftig nach Nutztierrissen “schneller und unbürokratischer” entnommen, sprich: geschossen werden sollen. Allein die Ankündigung hat erhebliche Erwartungen geweckt, vor allem aufseiten von Jagdverbänden und Tierhaltern, die nach einem Wolfsübergriff lieber heute als morgen auf die Pirsch gehen würden. Und auch das mediale Interesse ist groß. Ein heikles Terrain, die konkreten Vorschläge sollen deshalb in einer großen Pressekonferenz am 12. Oktober präsentiert werden, vorab soll und darf nichts nach außen dringen. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe war das auch der Fall.

“Die Nerven liegen blank”, fasst es ein Wolfsexperte, der nicht namentlich zitiert werden möchte, gegenüber der ZEIT zusammen. Dabei wurde das Bundesnaturschutzgesetz erst vor drei Jahren gelockert. Seitdem können Wölfe geschossen werden, die Tierhaltern einen “ernsten wirtschaftlichen Schaden” zugefügt haben. Davor musste der Schaden “existenzgefährdend” sein.

Seitdem muss man auch nicht mehr zwingend sicherstellen, dass man genau jenen Wolf erwischt, der für die Übergriffe verantwortlich ist – in der Praxis ohnehin schwierig. Daher gilt schon heute jeder Wolf als verdächtig, der sich in “zeitlicher und räumlicher Nähe” zu einem Übergriff auf Nutztiere aufhält. Mehrmals sind so unbeteiligte Wölfe ins Fadenkreuz geraten, etwa in Niedersachsen. Dort wurden bislang sieben Wölfe wegen Übergriffen auf Weidetiere erlegt, sechs davon stellten sich hinterher als unschuldig heraus. Nur einmal erwischte man den wahren Übeltäter – er trug als einer der wenigen einen Peilsender.

Gibt es gebrochene Knochen, Geschosspartikel im Fleisch?

Bevor ein Wolf aber zum Abschuss freigegeben werden darf, sieht das Gesetz bislang eine Kette von Maßnahmen vor, die abgearbeitet werden müssen. Erst müssen die Wolfsexperten der Bundesländer ausrücken und klären, ob wirklich ein Wolf hinter den Rissen steckt. Sie sammeln auch DNA-Proben, denn Gewissheit liefert hier oft nur ein Gentest. Steht der Wolf als Übeltäter fest, muss nun erst der betroffene Tierhalter seinen Herdenschutz auf ein zumutbares Maß erhöhen, das heißt: 1,20 Meter hoher Weidezaun, mit mindestens 2500 Volt Spannung. Nur wenn ein Wolf eine solche Barriere mehrfach überwindet, gilt er als Wiederholungstäter und könnte entnommen werden.

Da gehen schnell vier Wochen ins Land, manchmal mehr. Wird dann eine Genehmigung erteilt, stehen Umweltverbände meist schon bereit, um vor Gericht zu klagen. Das bringt weitere Verzögerungen und rechtliche Unsicherheiten.

Schon jetzt würden manche lieber gar nicht abwarten, bis ein Wolf durch Nutztierrisse auffällt. In wolfsreichen Regionen, so eine der Forderungen, solle der Wolf vorbeugend bejagt werden. Die Unionsfraktion steht hinter dieser Idee, die man auch Obergrenze für Wölfe nennen könnte. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat für sein Bundesland bereits solche Regionen ausgemacht, an der Küste und in der Heide. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat festgestellt: “Der Wolf gehört nicht zu Bayern.”

Spätestens hier dürfte die EU etwas dagegen haben. Nach EU-Recht ist der Wolf allen deutschen Debatten zum Trotz immer noch streng geschützt. Zwar sind auch hier Ausnahmen möglich, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: Schon einmal hat sich die EU-Kommission das deutsche Wolfsmanagement kritisch angeschaut und mehr Zurückhaltung eingefordert, unter anderem wegen der ungenauen Entnahmepraxis in Niedersachsen. Zuletzt signalisierte aber EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine gewisse Offenheit für Veränderungen. Das von der Leyensche Familien-Pony Dolly wurde vor einem Jahr von einem Wolf gerissen. Auch sie sprach kürzlich davon, dass der Schutzstatus stärker regional bewertet werden sollte anstatt einheitlich für die ganze EU – und rief erst mal Gemeinden, Wissenschaftler und alle interessierten Parteien dazu auf, aktuelle Wolfsdaten per E-Mail einzusenden.

Aus Deutschland sollten diese Daten eigentlich vorliegen. Hierzulande sind jeden Tag Dutzende Menschen hinter dem Wolf her, und zwar ohne Gewehr. Sie sammeln Kadaver ein, hängen Wildkameras auf, lesen deren Speicherkarten aus, verpacken Kot- und Urinproben. Sie schieben tote Wölfe in Computertomografen, sequenzieren DNA und pflegen Datenbanken. So entsteht ein dichtes Netz an Informationen, das die Wolfspopulation in Deutschland umgibt. Es soll ein solides Fundament für politische Entscheidungen darstellen. Für den zukünftigen Umgang mit dem Wolf, auch, aber nicht nur hinsichtlich der Frage der Bejagung. Diese Arbeit findet im Schatten der lauten Debatte um den Abschuss statt. Doch auch hier könnte sich mit Blick auf die stetig steigende Wolfspopulation bald die Frage stellen, wie man da eigentlich weitermachen möchte.

Zurück in Sachsen-Anhalt, hier wird der Wolf für den Abtransport vorbereitet. Seine Zunge schneidet Wolfsexperte Berbig mit einem Messer fachmännisch aus dem Maul. Sie wird in einem Becher mit Alkohol per Post an das Senckenberg Zentrum für Wildtiergenetik in Gelnhausen geschickt. Dort untersucht Carsten Nowak mit seinem Team seit 2010 alle Proben, die in Deutschland in Verbindung mit dem Wolf gesammelt werden, zuletzt waren das mehr als 5840 im Jahr: Kot und Urin, Haare, Speichelabstriche, die erwähnte Zunge. “Gut zwei Drittel davon führen tatsächlich zum Ergebnis Wolf”, sagt Nowak, der Rest entpuppt sich etwa als Hinterlassenschaften von Füchsen oder Hunden.

Das Verfahren ist aufwendig. Zunächst wird die DNA extrahiert, kopiert und sequenziert. Damit lässt sich feststellen, ob eine Probe wirklich von einem Wolf stammt. Falls ja, wird in einem zweiten Schritt ein individueller genetischer Fingerabdruck abgenommen. Aus Genomdaten lassen sich Geschlecht, ungefähres Alter und Verwandtschaften ablesen. Außerdem kann man über die Datenbank nachvollziehen, wo sich besagter Wolf in der Vergangenheit aufgehalten hat.

Fünf bis sechs Werktage dauert es, bis das Ergebnis vorliegt. Schon jetzt können die Bundesländer aber ein sogenanntes Eilverfahren beantragen und beide Analyseschritte gleichzeitig durchführen lassen, dann ist alles in zwei Tagen erledigt. So geschehen etwa, als das Pony von Ursula von der Leyen gerissen wurde.

Carsten Nowak machen steigende Wolfs- und damit Probenzahlen zwar im Labor keine Sorgen. Mittels Robotik ließen sich in Zukunft noch viele Schritte automatisieren, sagt er. Der wahre Zeitfresser sei das Einsammeln der Proben. Wenn sich der Wolf weiter ausbreitet, könnte das flächendeckende Monitoring bald an seine Grenzen stoßen. Dann könnte man irgendwann nicht mehr überall Proben sammeln und in der Folge auch nicht mehr jedes Rudel in Deutschland genetisch erfassen. Die Größe der Wolfspopulation ließe sich zwar noch mit statistischen Mitteln berechnen, aber immer unschärfer würde dann das Bild. Auch einzelne Problemwölfe zu identifizieren könnte schwierig werden.

Droht hier also die wahre Gefahr? Verliert Deutschland bald den Überblick über seine Wölfe? Und das auch noch in dem Moment, in dem man mit der Bejagung einen massiven Eingriff in die Population diskutiert?

In Berlin stemmt sich eine Frau mit aller Kraft gegen diese Entwicklung: Claudia Szentiks ist Pathologin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung im Osten Berlins. Seit mehr als zehn Jahren landen fast alle toten deutschen Wölfe auf ihrem Seziertisch. Wie es den Wölfen in Deutschland geht, woran sie erkranken, warum sie sterben, dieses Wissen seziert Szentiks aus jedem einzelnen Wolf heraus.

Soeben hat sie den toten Wolf aus dem Wassergraben entgegengenommen, verpackt in einem schwarzen Leichensack. Andere Wölfe kommen auch gefroren an, manche im Pulk mit sechs anderen. Weil bei Wasserleichen automatisch der Verdacht auf eine illegale Tötung vorliegt, wird dieser Wolf zur Eilsache – und beschert Szentiks eine Spätschicht.

Zusehen kann man bei der Untersuchung nicht, laufende Ermittlung. Aber es wird so ablaufen: Erst wird der Wolf in einen Computertomografen geschoben: Gibt es gebrochene Knochen, fehlende Körperteile, Geschosspartikel im Fleisch? Danach wird er obduziert.

Szentiks muss den Wolf wiegen, von allen Seiten fotografieren und nach äußeren Wunden und Verletzungen absuchen. Sie muss Abstriche nehmen und Spuren sichern, die möglicherweise zu einem Täter führen könnten. Dann muss sie die Bauchhöhle öffnen, alle Organe vom Gehirn bis zum Darm herausnehmen und begutachten. Hierbei wird ihr auffallen, dass die Leber des Wolfs grobhöckerig ist und von breiiger Konsistenz, und auch die Nieren sehen nicht mehr gut aus. Später wird sie eine Leber- und Nierenentzündung als Todesursache vermerken. Fremdeinwirkung ausgeschlossen.

Zwei Stunden dauert diese Prozedur meist, manchmal auch sechs. Und mittlerweile sterben so viele Wölfe, dass sie in der Pathologie zu kämpfen haben, um hinterherzukommen. Aktuell liegen noch an die 30 Tiere in der Kühlkammer und warten auf ihre Obduktion.

Muss man wirklich jeden toten Wolf aufschneiden? Für eine Wissenschaftlerin wie Szentiks ist das fast eine provozierende Frage. Die Obduktion kann helfen, eine mögliche Straftat aufzuklären. Wenn sie ausfiele, hätten Wilderer praktisch freie Hand. Schon heute gelingt es nur in Ausnahmefällen, nach einer illegalen Tötung einen Täter zu ermitteln.

Und es geht laut Szentiks noch um mehr: Wer nicht wisse, woran die Wölfe in Deutschland sterben, habe keine Ahnung, wie gesund die Wolfspopulation hierzulande ist, sagt sie. Das Monitoring, allen voran das Sammeln von Proben, muss ihrer Meinung nach eher intensiviert als zurückgefahren werden, wenn man sich für eine Bejagung entscheidet. Sonst drohten Unschärfen, gar blinde Flecken. “Wenn man irgendwann nicht mehr weiß, wie alt die Tiere sind, welche Rudel es gibt, wie groß der Genpool ist, welche Krankheiten da draußen grassieren, könnte es passieren, dass die Population binnen kurzer Zeit zusammenbricht”, sagt Szentiks.

Bei all den Abschussdebatten neigt man dazu, zu vergessen, dass nicht nur Mensch und Schaf vor dem Wolf geschützt werden müssen – sondern auch der Wolf selbst.

Wie wertvoll eine gute Datenbasis ist, zeigen Studien aus den USA. Dort haben sich Wissenschaftler die Daten aus 25 Jahren Wolfsmanagement in drei US-Bundesstaaten angesehen und festgestellt, dass man sich mit einer Bejagung – zu unbedarft durchgeführt – in Sachen Herdenschutz möglicherweise eher mehr Probleme bereitet, als man löst. Demnach führte dort der Abschuss von Wölfen in den darauffolgenden Jahren zu mehr Wölfen, nicht zu weniger. Weil die übrigen Wölfe plötzlich mehr Nachkommen zeugten. Und auch die Übergriffe auf Weidetiere nahmen durch die Bejagung zu.

Der Grund liegt nahe: Wölfe leben im Rudel und lernen dort das Jagen von ihren Eltern. Tötet man die Eltern, bleiben die unausgebildeten Jungen allein zurück – und die holen sich eher mal ein Schaf, weil sie ein wildes Reh möglicherweise nicht erwischen. “Die Bejagung löst unserer Ansicht nach nicht die Probleme des Herdenschutzes”, sagt auch der Sachsen-Anhalter Wolfsexperte Andreas Berbig. Für ihn sieht der Königsweg so aus: Herdenschutz mit Elektrozaun, der dem Wolf unter Schmerzen beibringt, dass er sich von Weidetieren besser fernhält.

Auch der tote Wolf aus dem Graben in Sachsen-Anhalt hat in der Vergangenheit übrigens einige Spuren hinterlassen, auch bei Nutztierrissen, wie die Genanalyse ergeben hat. 15-mal war er laut Datenbank insgesamt in Erscheinung getreten, das erste Mal schon vor zehn Jahren. Über seinen Abschuss muss sich aber niemand mehr den Kopf zerbrechen.

“Ich bin eher Freilandhuhn”

Nora Tschirners neuer Film heißt “Gut gegen Nordwind”. Aber was versteht sie eigentlich von Wind und Wetter?

Interview: Ilona Gerdom, Johannes Mitterer; erschienen in: JWD #14/2019

Nora, du bist in Berlin-Pankow aufgewachsen und lebst noch heute in Berlin. Wenn man deine Biografie anschaut, bist du das totale Stadtkind. Wann warst du das letzte Mal richtig in der Natur?

Nora Tschirner: Heute morgen. Ich habe in der Nacht eine Sternschnuppe gesehen, hatte einen fantastischen Sternenhimmel über mir, Tiere um mich und Dreck überall. Ich sehe sehr viel Natur.

Wo warst du da?

Auf einem Hof in Brandenburg, mit Wäldern drumherum, wo sich viele Tiere und Menschen gemeinsam aufhalten. Aber es muss kein spezieller Ort sein.

Was zieht dich an der Natur an?

Das ist die Lebenshaltungsform, die mir für Menschen am meisten einleuchtet. Ich bin eher Freilandhuhn. Ich liebe es, wenn alles krumm und schief ist. In der Stadt bin ich nur noch selten.

Hattest du als Kind das Gefühl, dass dir in der Stadt etwas fehlt?

Ja, aber eher unterschwellig. Als Kind lernt man ja schnell, über die inneren Stimmen hinwegzugehen und denkt, das müsse alles so sein, wie die Großen sagen. Als ich dann mit Mitte 20 angefangen habe, mich zurückzuerinnern, wo es mir am besten ging, war das immer mit einer Hand in irgendeinem Fell, mit den Knien im Dreck und mit Wind um die Nase. Und als ich dann noch gemerkt habe, huch, ich kann ja mitgestalten an meinem Leben, habe ich es immer weiter rausverlagert. Heute hab ich schon das Gefüh, ich mache mich stadtfein, wenn ich nach Berlin fahre.

Gibt es eine bestimmte Art von Natur, die dich reizt?

Wald. Seit Ronja-Räubertochter-Tagen schon. Die Kühle, gemischt mit einer Lichtung und einem Bach, da könnte ich sofort anfangen zu heulen.

Spielt für dich beim Rausgehen das Wetter eine Rolle?

Ja, aber nicht wie für die meisten Leute, die dann nicht rausgehen. Ich finde es herrlich, dass es so unterschiedliches Wetter gibt. Ich war immer eher der Typ, der in der krassen Kälte unterwegs ist. Das muss dann auch nicht tolles Schneewetter sein. So ein richtiges Mistwetter finde ich super. Hitze konnte ich lange nicht aushalten. Mittlerweile genieße ich auch das – dass man innerhalb von einer Sekunde schweißgebadet ist und überall der Dreck klebt.

Bist du auf alle Wetterlagen vorbereitet?

Ich liebe gute Ausrüstung, aber eher auf pragmatische Art. Ich hasse nichts mehr, als wenn ich eine Unternehmung abbrechen muss, weil ich oder jemand anderes nicht richtig angezogen ist. Da habe ich Zero Tolerance. Ich finde das ganz schlimm, wenn man denkt: “Geil, Wandern!” Und nach einer halben Stunde jammert einer über eine Blase. Alter, what the fuck! Das kann ich mir auch selber schwer verzeihen. Deswegen bin ich meist richtig angezogen, egal wofür.

Gab es mal einen Moment, in dem dir das Wetter zu krass wurde?

Ich war mal auf einer Hundeschlittentour, da waren minus 20 Grad und Schneesturm. Als ich da morgens rausging, dachte ich, ich werde sofort sterben. Dann haben mir Leute vor Ort gezeigt, wie man sich anzieht, mit Ledernasenschutz und drei Lagen Schal über den Ohren. Das war wie ein Raumanzug, ich hab den Sturm nicht mal mehr gehört. Komplett geschützt in einem lebensfeindlichen Umfeld zu sein, zu wissen, dass man sich auch gegen solche Temperaturen wappnen kann, das war das beste Gefühl von Freiheit.

Also bevorzugst du Abenteuerurlaube?

Früher habe ich alles mitgenommen, heute bin ich nicht mehr s ein Draufgänger. Aber Aktivität ist schon toll. Ich habe lange nicht verstanden, warum Leute an den Strand fahren, um zu braten. Als Kind hockte ich immer unter Büschen im Schatten, wenn wir in Griechenland waren. Da bin ich cooler geworden.

Was bedeutet Abenteuer für dich?

Abenteuer ist für mich gar nicht so was Ungewöhnliches. Dafür muss ich nicht an einer Klippe hängen. Es ist einfach etwas Unroutiniertes, etwas Neues. Das können auch kleine Sachen sein, dass ich mich im Alltag einem Dialog stelle, mit einem grummeligen Typen bei Edeka zum Beispiel. Dass ich da dranbleibe und plötzlich ein Level knacke in der Kommunikation, fällt für mich auch in die Kategorie Abenteuer. Also auch innere Vorgänge. Deswegen habe ich das Gefühl, mein Leben ist durchweg abenteuerlich, aber auf entspannte Art.

Wie motivierst du dich für Neues?

Brauch ich nicht. Ich bin einfach unfassbar neugierig und finde die Welt sehr spannend. Ich muss mich eher motivieren, Netflix zu gucken.

Was hast du als letztes gelernt, das wirklich neu war?

Wie man bei einem Pferd Fieber misst.

Und wie macht man das?

Wie beim Menschen. Es ist das gleiche Thermometer, nur die Herausforderungen sind andere. Das Worst-Case-Szenario ist, dass das Tier wegläuft und das Thermometer plötzlich nicht mehr in deiner Hand, sondern im Pferd steckt. Das wollen wir vermeiben, neben: Das Pferd findet dich unsympathisch und kickt dich weg.

Misst man von hinten, von vorn oder unter der Achsel?

Man hofft am Anfang, dass es die Stirn, das Ohr oder die Achsel ist, aber ist der Po. Eine Sache, von der ich nicht mehr erwartet hätte, dass ich das noch mache.

Wie ist die perfekte Temperatur beim Pferd?

Bisschen höher als bei uns, so 38 Grad dürfen die noch haben. Dieses Pferd hatte 37,3 Grad, das war okay.

Wir sind froh, dass wir das geklärt haben.

Ja, wenn ihr mal bei einem Pferd nicht genau wisst wegen Fieber, dann einfach durchklingeln.

Zurück zum Wetter. Ein Phänomen haben wir vergessen: Wind.

Ich habe tatsächlich ein echtes Problem mit Wind. Der stresst mich ziemlich. Nach einem windigen Tag am Meer brauche ich zwei Tage, um den aus dem System zu kriegen. Das ist wie für andere Leute ein Tinnitus. Dieses Gezerre, die Unruhe. Ich halte das aus, aber es ist nicht mein Lieblingselement.

Hast du einen Trick, wie du dich dagegen wappnest?

An den Strand würde ich immer einen Windschutz mitnehmen. Und Kapuze aufsetzen, damit um den Kopf alles zu ist. Oh Gott, ich bin ja völlig neurotisch – am besten wäre die Kluft von damals beim Hundeschlittenfahren, Ledernasenschutz, Schweißerbrille, drei Schals, so die leichten Sachen (lacht). Neeeein, ich habe überhaupt kein Problem mit Wind, und ich habe auch keine Tricks, ich bin sooooo ein Draußentyp, ich liebe Wind!

In deinem neuen Film “Gut gegen Nordwind” spielst du die verheiratete Emmi, die sich durch Zufall in einen anderen Mann verliebt, und zwar per E-Mail. Emmi liegt nachts oft wach, sie schiebt das dann auf den Nordwind, der beim Fenster reinkommt, und schreibt dann diesem Mann. Metaphorisch hält sie aber nicht der Wind wach, sondern ihre Einsamkeit.

Ich glaube, es ist beides. Der Wind nervt sie wirklich, unsere Befindlichkeiten ähneln sich da. Ich finde das übrigens eine sehr ambivalente Szene, weil man denkt: Meine Fresse, dann wechsle halt das Zimmer! Gleichzeitig geht es natürlich genau darum, man will ja auch mal derjenige sein, der einfach mal nicht weiß, wie etwas geht. Das ist schon auch berührend. Die Metapher wäre für mich eher, dass man in bestimmten inneren Mustern irgendwann durch Kontakt mit jemandem bestimmten zum ersten Mal weiterkommt. Ich habe das erlebt in Beziehungen, dass ich dachte: Hier hören die anderen auf, und hier fange ich an. Ganz klar. Und dann hast du eine Begegnung mit jemandem, und du merkst, krass, das war eigentlich eine Blockade, eine Gewohnheit, ein Muster, und das bröckelt gerade, und man hat so eine neue Freiheit. Emmi kommt plötzlich in Kontakt mit diesem Einsamkeitsfragezeichen in sich, das sie ohne Leo nicht spüren, nicht lösen konnte, selbst in ihrer Familie nicht, weil es diese Gesprächsebene mit ihrem Ehemann schon lange nicht mehr gab.

Kennst du das auch, dass du Gefühle oder Bedürfnisse an einen konkreten Sachverhalt koppelst, so wie Emmi ihre Einsamkeit im Wind spürt?

Ja. Aber auch im negativen Sinne. Zum Beispiel habe ich eine totale Angst vor Rollschuhfahren, die nichts mit Rollschuhfahren zu tun hat, sondern mit so einer Kontrollsache und mit – was weiß ich – meinen Knöcheln. Irrationaler Quatsch, der an so Zeug gekoppelt ist, wo es dann spannend ist weiterzufragen: Was ist denn das eigentlich?

Hast du eine Theorie, wo deine Angst vor dem Rollschuhfahren herkommt?

Ja, aber die möchte ich bitte lieber mit meinem Therapeuten besprechen. Oh Gott, wenn man damit anfängt… Das bringe ich mal als Buch raus. Aber ihr dann alle auch, bitte! Wahrscheinlich sagt jetzt jeder Therapeut: “Aha, Angst vor dem Rollschuhfahren, ganz klar, steht ih meinem Seelenbuch direkt auf Seite eins, das kann ja nur das und das sein.” Zum Glück lesen das nicht nur Therapeuten. Die anderen denken immer noch, ich bin ein bisschen normal…

Falls uns da irgendwelche Antworten erreichen, können wir diese sehr gerne weiterleiten.

Haha, ja, das ist mir immer ganz lieb, wenn mir völlig fremde Leute helfen, meine Probleme zu lösen: “Also ich glaube, die Nora hat ein Problem mit Nähe, aber just saying…”

Ewige Jagdgründe

Wer die Gams im Hochgebirge erlegen will, muss fit sein, hervorragend schießen und vor allem: Geduld haben. Deshalb zählt die Gamsjagd
in den Alpen zu den anspruchsvollsten Jagddisziplinen. Unterwegs über Stock und Fels in den österreichischen Bergen

Text: Johannes Mitterer, erschienen in: BEEF! Spezial Bayern (11/2017)

Für einen kurzen Moment steht die Gams still, schnüffelt und lauscht. Sie weiß, da ist jemand in ihrem Revier, jemand Fremdes. Sie hat es gerochen, vorhin, als der Wind gedreht hatte. Dann ist sie geflüchtet, ein kurzes Stück, quer über das Geröllfeld, durch die Schneerinne und über den Hang wieder hoch Richtung Gipfel. Nur ein paar Meter liegt sie zurück hinter ihrem Rudel. Sie ist alt, das Fell auf ihren Backen grau, aber ihr Körper ist kräftig und noch gut in Schuss. Ein, zwei kurze Sätze, und sie steht oben auf dem Felsen, der etwas aus dem Berg hervorragt: ein guter Aussichtspunkt, um sich neu zu orientieren. Sie macht kurz Pause, schnüffelt, aber der Wind hat wieder gedreht, der fremde Geruch von vorhin ist verschwunden. Sie blickt nach unten, aber nichts bewegt sich. Sie lauscht, aber einen Knall hört sie nicht.

VORBEREITUNG

Am Abend zuvor in Zederhaus, einem 500-Einwohner-Dorf rund 100 Kilometer südlich von Salzburg. Markus Meindl lädt die Ausrüstung für die Gamsjagd aus seinem grauen Porsche Cayenne, bei der wir, ein Reporter und ein Fotograf, ihn und seinen neunjähringen Hund Romeo begleiten werden.

Seit 15 Jahren geht Meindl schon „Jagern“, wie man in Bayern sagt, wenn man „zur Jagd“ meint. Jagern ist in Bayern Tradition, und einer wie Meindl, der hauptberuflich edle Lederhosen herstellt, hält diese Tradition natürlich hoch. Vor allem aber ist Jagern für Meindl eine Leidenschaft, die er mit Freunden teilt. Und es ist eines jener Abenteuer, die es heute kaum noch gibt, in einer Zeit, in der viele Fleisch nur aus dem Supermarkt kennen. Meindl, breites Kreuz, muskulöse Arme und ein grauer Dreitagebart als einziges Indiz für 45 Lebensjahre, ist einer, der sich noch unter den Abenteuern die größten heraussucht. Die Gamsjagd im Hochgebirge gehört dazu.

Weiter geht es mit dem Pistenfahrzeug, das Markus Meindl in Zederhaus auf dem Bauernhof seines Aufsichtsjägers Matthias Moser geparkt hat. Moser verwaltet mehrere Reviere in dieser Region, darunter auch Meindls, er kümmert sich um die Pächter, achtet auf die Einhaltung der Abschuss- quoten, überprüft jeden einzelnen Abschuss. Nacheinander schichtet Meindl das Equipment auf die Ladefläche des Yamaha Rhino, ein dunkelgrünes Geländefahrzeug mit Doppelsitz und Überrollbügel: 1. hochalpine Bergschuhe, Rucksack, warme Kleidung; 2. Regenkleidung, das Wetter soll schlecht werden; 3. ein Wanderstock aus Weidenholz; 4. Plastiktüten voller Brotzeit: Käse, Leberkäse, Speck, Salami, Brot und Eier, Essiggurken, Pfefferoni und Senf; 5. Fernglas mit Entfernungsmesser und Spektiv, einer Art Fernrohr; 6. zwei Gewehre von Blaser, einem Jagdwaffenhersteller aus dem Allgäu: „die Kleine“, so nennt sie Meindl, eine K 95 Kipplaufbüchse, 270er-Kaliber, drei Kilo schwer, und „die Große“, eine R8 Geraderepetierbüchse, mit Vier-Schuss-Magazin und 300er-Kaliber, sechs Kilo. Beide aus Wurzelholz gefertigt, mit großen Zielfernrohren auf dem Lauf.

Meindl hat seine beiden Büchsen seit zehn Jahren, er hat jeden Handgriff tausendmal gemacht, öfter zur Übung, oft genug auch zum Abschuss. Trotzdem hat er bei der Anfahrt einen Zwischenstopp am Schießstand der Salzburger Jägerschaft eingelegt, einem flachen Zweckbau mit schallisolierten Kabinen, in denen es knallt und die Wände wackeln, wenn der Schall vom Ende des Tunnels zurück gegen die Kabinen prallt. Waffen einschießen. Meindl feuerte ein paar Probeschüsse ab, 100 Meter, Treffer, 200 Meter, Treffer.

Es ist schon dunkel, eisige Luft weht in unsere Gesichter, als wir mit dem Rhino durch Zederhaus brausen, unter der Autobahn hindurch bis zu einer Abzweigung. Meindl stoppt kurz, schaltet den Rhino auf Allrad und biegt rechts ab auf den Waldweg, der hoch zur Jagdhütte führt. Die Stollenreifen graben sich in den Boden, der Weg wird steiler, das Gelände fällt zur Hangseite steil ab. Der Regen hat tiefe Furchen ausgewaschen, doch der Rhino klettert stur die Serpentinen hinauf, „der schafft auch noch 20 Zentimeter Neuschnee“, sagt Meindl. 20 Minuten später, auf 1600 Höhen- metern, endet die Straße, und im Scheinwerferlicht taucht die Jagdhütte auf: ein Holzhäuschen mit Zaun unterhalb einer Felswand, links ein ausgetrockneter Brunnen, davor eine Holzterrasse mit massiver Hausbank. „Kein Luxus, aber es ist alles da, was man braucht“, sagt Meindl; ein Wohn- raum mit Tisch, Eckbank, kleiner Küche und Holzofen, ein Bettenlager unter dem Dach und, ganz wichtig, ein Erdkeller für Bier und Wein.

Wir heizen ein, machen Brotzeit, und zu Schnapserl und Bier beantwortet Meindl bereitwillig jene Fragen, die jeder Jäger kennen dürfte. Muss das sein, das Jagern? Schießen? Regelt sich die Natur nicht von selbst?

„Die Jagd ist aktiver Naturschutz“, sagt Meindl, jeder Abschuss, sofern waidmännisch erfolgt, trage zum Erhalt des Wildtierbestandes bei. „Waidmännisch“, diesen Begriff benutzt Meindl oft. Waidmännisch handelnde Jäger dezimieren den Wildbestand, sodass ein gesundes Gleichgewicht herrscht. Sie schießen kranke Tiere, ehe sich Krankheiten in den Rudeln ausbreiten. Allein für die Trophäe schießen sie nicht. Dementsprechend dämpft Meindl die Erwartungen an den morgigen Tag: „Jagern ist meist nicht viel mehr als ein bewaffneter Spaziergang.“ Dass wir eine zum Abschuss geeignete Gams finden und dann noch erwischen, sei alles andere als wahrscheinlich. Um kurz vor zehn Uhr rollen wir unsere Schlafsäcke aus und gehen zu Bett. Drei Bier und drei Schnapserl sind das Zielwasser für den nächsten Tag.

AUFSTIEG

Nur der frühe Vogel schießt die Gams: Um 4.45 Uhr, Stirnlampen auf dem Kopf, Rucksäcke auf dem Rücken, brechen wir auf. Nieselregen knistert gegen unsere Regenjacken, und der bewaffnete Spaziergang beginnt eher wie eine bewaffnete Klettertour. Meindl hat „die kleine“ Büchse über die Schulter geworfen und klettert voraus, rechts die steile Böschung hoch. Wir klettern über gestürzte Lärchen, an abschüssigen Stellen klammern wir uns mit den Händen an Grasbüschel und Sträucher. Immerhin ist es so steil, dass wir uns nicht tief bücken müssen, um den Boden zu greifen. „Schade, dass es keinen Meter Schnee hat“, findet Meindl.

Drei Männer keuchen und schwitzen, drei Lichtkegel wackeln durchs Gebirge. Nur Romeo, braunes Fell, lange, kräftige Beine, läuft munter nebenher.

Eine Stunde später, auf knapp 2000 Metern, haben wir einen Jägerstand erreicht, eine überdachte Bretterkanzel, in etwa vier Metern Höhe in der Gabel einer Lärche verankert. Wir wechseln die nassgeschwitzte Unterwäsche, denn „wenn Du einmal frierst, erholst Du dich den ganzen Tag nicht mehr“, sagt Meindl. Er hofft, dass mit der Sonne das Rotwild zum Äsen auf die Lichtung kommt. Aber der Wind bläst aus allen Richtungen: „Und wenn der Wind jagert, kann der Jäger zu Hause bleiben.“

Vom Hochsitz überblicken wir die Lichtung, hin und wieder hebt Meindl das Fernglas, setzt es ab, hebt es wieder an. Die Sonne geht auf, wir sehen die Lärchen, die als letzte Bäume dem Höhenklima trotzen, aber ihre Nadeln schon abgeworfen haben. Wir sehen hinter uns das Tal und die massiven Berggipfel auf der anderen Seite. Graubraune Felsen, grün-braune Wiesen, braun-graue Bäume, der Berg trägt Tarnfarben. Aber Wild sehen wir nicht. Vielleichthat es uns gerochen, vielleicht äst es heute Morgen einfach woanders, hilft nichts, „pack mas wieder“, sagt Meindl um sieben Uhr, weiter hoch, ins Gamsrevier.

PIRSCH

280 Hektar umfasst Meindls Revier, ein Talschluss, steil und schroff. Im Frühjahr treiben die Bauern ihre Rinder auf die saftigen Almweiden, die wie eine weiche Decke auf dem kristallinen Gestein liegen. Meindls Revier kennt keine Wanderwege und so auch keine Wanderer. Ein Zaun mit Sta- cheldraht markiert die westliche Grenze des Reviers, an ihm entlang steigen wir weiter Richtung Gipfel. Immer wieder treten wir über frische Losungen vom Rotwild. Wir lassen die letzten Bäume hinter uns, das Gelände wird felsiger, ein Birkhahn ergreift flatternd die Flucht. Alle paar Minuten sucht Meindl die Hänge mit dem Fernglas ab, und nach einer halben Stunde entdeckt er die Gamsen. Vor uns am Horizont, nahe der östlichen Grenze des Reviers, wo das Bergmassiv nach links abbiegt, stehen sie: etwa zehn schwarze Punkte auf einem Geröllfeld, 1500 Meter Luftlinie entfernt. „Da müssen wir hin“, sagt Meindl.

Die Geißen, also die weiblichen Gamsen, leben mit ihren Jungtieren, den Kitzen, in kleinen Rudeln von 15 bis 30 Tieren zusammen. Auch die jungen Böcke bilden kleine Rudel, die alten, erfahrenen Männchen dagegen sind als Einzelgänger unterwegs. Nur in der Brunftzeit von November bis Mitte Dezember gesellen sich die Böcke zu den Geißen.

Auf 2400 Metern liegt vermehrt Schnee wie verklumpter Puderzucker auf dem Gras, an manch schattiger Stelle zwischen den Felsen ist der Boden vereist. Dafür scheint wider Erwarten die Sonne, nur nicht auf uns, wir stehen auf dem Nordhang. Wir setzen unsere Pirsch quer zum Berg fort, ein paar Meter unter der Linie, bei der sich das Gras den Felsen ergibt, rechter Hand die Gipfel, linker Hand das Tal. Meindl geht voraus, Romeo folgt ihm. „Er ist kein gelernter Jagdhund, aber er weiß genau, worum es geht“, sagt Meindl. Auf halber Strecke duckt er sich hinter eine kleine Erhöhung, greift zum Spektiv und beginnt mit der Ansprache des Rudels – das bedeutet, er versucht genau herauszufinden, um welche Tiere es sich handelt. Die Einteilung erfolgt nach Geschlecht und Alter in drei Kategorien – Klasse 3: Bock mit einem Jahr, Geiß mit einem Jahr; Klasse 2: Bock bis sechs Jahre, Geiß bis neun Jahre; Klasse 1: Bock ab sieben Jahren, Geiß ab zehn Jahren. Meindl darf drei Gamsen pro Saison schießen, so hat es die Salzburger Jagdbehörde festgelegt. Einen jungen (3er) und einen alten (1er) Bock hat er schon erwischt, nur eine alte (1er) Geiß, „die hab ich noch frei“, sagt er.

Allein bei kranken Tieren darf er von der Quote abweichen. Bloß: Wie soll man das erkennen, noch dazu aus dieser Entfernung? „Ein Gamsjäger, der behauptet, er hätte sich nie getäuscht, der lügt“, sagt Meindl. Sein erster Blick geht zum Kopfschmuck der Gamsen, den Krucken: je höher und stär- ker die beiden Hörner, desto älter das Tier. Allerdings tragen bei den Gamsen nicht nur die Böcke ein Geweih, sondern auch die Geißen. Meindls Blick wandert weiter zur Bauchlinie: Hat das Tier einen Pinsel zwischen den Beinen, ist es ein Männchen, hat es Zitzen, ist es ein Weibchen, sind die Zitzen geschwollen, führt es gerade ein Junges. Er studiert das Verhalten der Tiere im Rudel: Läuft eine Geiß einige Meter hinter den anderen her, ist sie möglicherweise so alt, dass sie bald aus dem Verbund verstoßen wird. Grau meliertes, verwaschenes Fell an den Schläfen, den sogenannten Zügeln, ist ein weiteres Anzeichen von hohem Alter.

Gerade bei Geißen kann ein Jäger viel Schaden anrichten. Erschießt er ein Muttertier, wird das Junge den anstehenden Winter nicht überleben. Erwischt er die Leitgeiß, gerät das ganze Rudel in Gefahr. Sie führt die anderen Tiere durch den Winter, kennt das Gelände, die Lawinenhänge, die Gefahren. „Jagen ist Beobachten“, sagt Meindl, „man braucht viel Erfahrung und viel Glück, aber vor allem muss man sich viel Zeit nehmen.“ Und im Zweifelsfall müsse man dann eben auch abbrechen.

Ein paar Minuten lang verschafft sich Meindl eine erste Vorstellung über die Strukturen im Rudel. Nun zählen wir schon 16 schwarze Punkte auf dem Geröllfeld – die Chancen, dass eine 1er-Geiß dabei ist, steigen mit jedem Punkt. Wir marschieren weiter. Je näher wir kommen, desto leiser sprechen wir, desto geduckter gehen wir, und desto gezielter nutzen wir den Berg als natürliche Deckung. Da uns der Wind ins Gesicht bläst, sollte uns unser Geruch nicht verraten. Plötzlich hetzen 150 Meter talabwärts zwei Gamsen vorbei. Meindl nimmt die Büchse von der Schulter, legt an, doch zieht gleich wieder zurück: zwei Böcke – nicht erlaubt.

Ein paar Minuten später, gegen 8.45 Uhr, erreichen wir die letzte Geländebiegung, hinter der sich der Hang mit den Gamsen öffnet. Meindl legt seinen Rucksack ab und klettert ein kurzes steiles Stück nach oben, bis er über den Scheitel sieht. Die schwarzen Punkte von vorhin haben mittlerweile Beine und Köpfe, und sie sind noch mehr geworden. Zu
den 16 Gamsen im Geröllfeld zählen wir sechs weitere, näher als die anderen, etwa 250 Meter entfernt. Meindl peilt die Gamsen erst durch sein Spektiv an, dann durchs Fernglas, schließlich durchs Zielfernrohr seines Gewehrs. Er sieht ein paar Böcke, einige Jungtiere und ein paar mehr Geißen. Zwei davon sehen vielversprechend aus. Meindl legt an
und beobachtet, setzt ab, legt wieder an. Er zögert. Ein Kitz steht zwischen den beiden Geißen. Welche ist die Mutter? Plötzlich heben die Gamsen ihre Köpfe und rennen los, zwei, drei Tiere zuerst, dann das ganze Rudel, weg von uns Richtung Gipfel. „Jetzt haben sie uns gehabt“, sagt Meindl – der Wind hat gedreht und uns doch verraten. Ein wenig enttäuscht, aber mit dem Gefühl, waidmännisch gehandelt zu haben, heben wir unsere Rucksäcke auf.

ZWEITER ANLAUF

Auf direktem Weg gehen wir Richtung Jagdhütte, abwärts über Gestrüpp und Stein, vorbei an einem massiven Felsbrocken, der vor einigen Jahrzehnten aus dem Berg gebrochen und abgestürzt sein muss. Doch nach ein paar Hundert Metern wittert Meindl eine neue Chance. Das Gamsrudel klettert zu unserer Rechten den Hang entlang, nur aufwärts statt abwärts. Den Schreck von vorhin scheinen die Tiere überwunden zu haben, der Wind hat wieder gedreht, und der fremde Geruch ist verschwunden.

Die nächsten Minuten sollten sich später anfühlen wie im Zeitraffer, fünf Stunden Wanderung verdichten sich in einem minutenkurzen Höhepunkt. Meindl durchquert einen Graben, durch den ein kaltes Rinnsal fließt, steigt die nächste Böschung hoch, nimmt seinen Rucksack ab und legt an.
Er sieht die beiden Geißen von vorhin, eine hält Anschluss ans Rudel, bei ihr ein Junges. Und weiter hinten, etwas abgeschlagen, eine einsame Geiß. Nur: Wir sind sehr weit weg, sicher 400 Meter. Meindl robbt auf dem Bauch über die kleine Ebene, steigt hinunter in den nächsten Graben und von
dort mit hastigen Schritten den nächsten Hang hinauf, gut 75 Meter. Oben angekommen, wirft er sich ins Gras, misst kurz die Entfernung mit dem Fernglas: 359 Meter, legt an, und – es knallt – schießt. Ein Kontrollblick, dann ballt er die Faust und stößt einen Jubelschrei aus: „Geil, das ist Jagern!“

BERGUNG UND ABSTIEG

Nach dem Schuss kommen die Fragen: Hat er getroffen? Ja. Ist die Gams tot? Ja, Blattschuss. Sonst müssten wir das verletzte Tier jetzt verfolgen. Wo ist die tote Gams? Wir haben Glück: Sie ist über eine Schneerinne in unsere Richtung abgestürzt. Denn wer schießt, muss bergen.

Romeo findet die Gams als erster, gut 300 Meter weiter oben in der Rinne. Rote Flecken im Schnee markieren ihren Absturz. Meindl prüft als Erstes die Zitzen: keine Milch, also kein Muttertier. Dann die Wunde: sauberer Blattschuss.

Auf der Seite, auf der die Kugel ausgetreten ist, ist das Fell blutverschmiert. Als Letztes zählt er die Jahresringe an den Schläuchen: elf Jahre, schätzt er, also alt genug für eine Geiß der ersten Kategorie. Was ist das für ein Gefühl? „Ein gutes“, wird Meindl später sagen, „aber kein erhebendes.“

Noch an Ort und Stelle bricht er die Gams mit seinem Jagdmesser auf. Er schneidet den Bauch auf und löst die Eingeweide heraus, es gurgelt und dampft, Meindls Hände färben sich blutrot. Die Innereien lassen wir hier für Fuchs oder Steinadler, die leere Geiß packt Meindl an den Hörnern und rutscht mit ihr das schmale Schneefeld hinab zu den Rucksäcken. Zur Feier gibt’s ein Schnapserl aus dem Flachmann. „Das gehört zum Jagern dazu“, sagt Meindl. Dann wickelt er einen Strick mit Holzgriff um Vorderläufe und Hörner und marschiert los, die Gams hinter sich ziehend wie einen 30 Kilo schweren Schlitten ohne Kufen. „Eine Stunde ist okay“, sagt Meindl. Danach wird das auch für ihn anstrengend. Unterwegs wäscht er die Gams in einem Bach aus, und um halb zwölf sind wir zurück bei der Jagdhütte.

Zur Belohnung gibt’s ein Bier, und wir heizen den Holzofen fürs Mittagessen an: Rührei mit Speck und Käse, dazu Krustenbrot. Nach dem Essen beladen wir den Rhino, Gepäck hinten, Gams vorne als Galionsfigur, und brettern ins Tal, um beim Aufsichtsjäger Bericht zu erstatten. Matthias Moser ist ein gut gelaunter Mann, der Gäste und Anrufer mit einem freundlichen „Waidmannsheil“ begrüßt. Als er die Geiß auf dem Geländewagen sieht, ist er begeistert. „Du taugst mir“, sagt er zu Meindl, „aus 359 Metern – Du bist ein Kaiserjäger!“ Moser zählt die Jahresringe nach, errechnet 13 Jahre, sagt: „Wahnsinn, 1er-Geiß, wow!“ Gemeinsam hängen sie die Gams in den Kühlcontainer, Moser wird ihr Fleisch später räuchern, Meindl aus der Haut eine Lederhose machen, der Oberkörper kommt zum Präparator für die Trophäe.

Dann bittet uns Moser in seine Stube, auf ein Schnapserl zur Feier des Tages. Immerhin ist er vielfach preisgekrönter Edelbrenner, vor ihm sind schon schottische Whiskybrenner auf die Knie gefallen. „Probieren wir die Wildkirsche“, sagt er, „wie wär’s mit der Vogelbeere?“, und „jetzt die Quitte,
die kennt hier eh keine Sau“. Seine Frau bringt Himbeerlikör, „das süße Zeug“, schimpft Moser, lacht und bringt Enzianschnaps und Whisky. Ein Schnapserl gehört schließlich zum Jagern dazu.