Wie viel Zauber braucht der Wald?

Das verborgene Netzwerk der Bäume interessiert die Forschung gerade neu. Den Förster Maximilian Scheel beschäftigt etwas anderes.

Text: Johannes Mitterer, erschienen in Die ZEIT 11/2023

Wohl jede Geschichte über den deutschen Wald könnte mit dem Borkenkäfer beginnen, und so soll es auch hier sein. Obwohl es schon ein Rätsel ist, wo der jetzt herkommt in diesem Buchenwald, im Februar. Borkenkäfer, so die Theorie, müssten jetzt Winterruhe halten. Erst im April sollten sie wieder ausschwärmen. Der Förster Maximilian Scheel hat hier im Karnap, so heißt das Waldstück nahe Trittau in Schleswig-Holstein, erst im vergangenen Herbst alle vom Käfer befallenen Fichten fällen lassen.

Es ist früh am Vormittag, Nieselregen fällt durch die Kronen der Buchen. Scheel, 32 Jahre alt, ist gerade aus seinem Geländewagen gestiegen, hat seine Dackel Greta und Susi aus dem Kofferraum gelassen. Das Klopfen eines Spechts hallt durch den Wald. Scheel stapft durch eine dichte Schicht aus Laub und Bucheckern, bis er zwei Fichten sieht, die nur wenige Meter auseinanderstehen. An der Rinde der einen klebt gelbes Harz wie Wachs an einer Kerze. Und dann sind da Löcher, wie mit einem Bohrer gesetzt, “hier, hier und hier”, sagt Scheel und fährt mit dem Finger am Stamm entlang. “Da war der Specht schon drin.” Und der Specht hämmert dort, wo der Borkenkäfer lebt. “Die Fichte hat es hinter sich”, sagt Scheel.

Ein Drittel Deutschlands ist von Wald bedeckt, und der Borkenkäfer ist zum Symbol für dessen Bedrohung durch den Klimawandel geworden. Dabei stellt nicht der Käfer die größten Ansprüche an den Wald. Das tut der Mensch. Wenn es nach ihm geht, soll der Wald dem Klimawandel nicht nur trotzen, sondern ihn am besten sogar aufhalten. Er soll CO₂ binden, Trinkwasser einlagern und Brenn- und Bauholz liefern. Er soll uns Erholung bieten und uns gesünder machen. Er soll ein unberührter, wilder Lebensraum für Pflanzen und Tiere sein. Ein Zauberwald.

Die Liebe der Deutschen zu ihrem Wald ist neu entbrannt, seit der Förster und Autor Peter Wohlleben 2015 sein Buch Das geheime Leben der Bäume veröffentlicht hat. Der Bestseller wurde verfilmt, selbst die New York Times besuchte Wohlleben in seinem Forstrevier in Rheinland-Pfalz. Das Buch veränderte den Blick der Deutschen auf den Wald. Wohlleben zeichnet die Bäume als soziale Wesen und Wälder als Superorganismen. Er attestiert Bäumen einen Geschmackssinn, beschreibt, dass sie unhörbare Durstschreie ausstoßen, wenn ihnen das Wasser ausgeht, und erzählt von alten Buchen, die ihren Nachwuchs mit Nährstoffen versorgen wie Mütter, die ihre Babys stillen.

Scheel hat das Buch des Kollegen Wohlleben damals auch gelesen. “Ich fand es interessant”, sagt er, “es traf den Zeitgeist. Der Wald als der letzte Rückzugsort, in den man sich flüchten und Natur erleben kann.” Das Buch habe ein breites Publikum für den Wald begeistert und auch einige Forstbetriebe aufgeweckt, sich mehr zu öffnen. Man müsse aber wissen, fügt Scheel hinzu, “es ist eher ein Roman als ein Sachbuch”.

Dem Förster begegnen immer wieder Menschen im Wald, die ihr Wohlleben-Wissen in der Praxis anwenden. “Die sagen dann: Wir haben Wohlleben gelesen, und das ist alles schlecht, was Sie hier machen.” Der Mensch, so die gängige Meinung, solle den Wald doch in Ruhe lassen, nichts fällen, nichts pflanzen. Wenn er mit ihnen spreche und seine Arbeit beschreibe, reagierten die Leute aber total verständnisvoll, sagt Scheel. “Wir Förster haben daraus gelernt, dass wir mehr erklären müssen.”

Den vermeintlichen verborgenen Verbindungen zwischen den Pflanzen im Wald widmen sich immer wieder auch wissenschaftliche Untersuchungen. Gerade haben sich drei Forscherinnen und Forscher aus Kanada und den USA in einer neuen Metastudie, die im Journal Nature Ecology & Evolution erschienen ist, genauer mit den Pilzen befasst. Dass Pilze im Waldboden eine wichtige Rolle bei der Nährstoffumsetzung spielen und einige auch Symbiosen mit Bäumen eingehen, gilt als unstrittig. Wohlleben geht davon aus, dass Bäume über die Pilznetzwerke im Waldboden kommunizieren können. Er verglich die Pilze mit Glasfaserleitungen, die Idee eines “Wood Wide Web” wurde nicht nur in den Medien verbreitet, auch in wissenschaftlichen Aufsätzen. Der Wald als soziales Netzwerk.

Die Forscherinnen stellten fest: Es fehlten die Belege dafür, dass solche Pilznetzwerke in Wäldern weit verbreitet seien. Es sei nicht bewiesen, dass Bäume darüber untereinander Ressourcen verteilten; und auch nicht, dass erwachsene Bäume darüber mit ihrem Nachwuchs kommunizierten. Es sei wünschenswert, so die Studie, die Vermenschlichung von Bäumen und Wäldern zu überdenken.

Auch Scheel hat die Studie überflogen, der Waldboden und die Pilze darin spielen in seiner Arbeit eine große Rolle. Überrascht haben ihn die aktuellen Studienergebnisse aber nicht. Für Scheel braucht der Wald schließlich nicht magisch zu sein, gesund reicht ihm. Dass alle Bäume sich gegenseitig vor Insekten warnten, hält er für wenig wahrscheinlich. Was sollte so eine Fichte auch verändern, wenn sie vorher wüsste, dass der Borkenkäfer im Anflug sei? “Sie will sich ja sowieso verteidigen”, sagt er. Ob sie den Eindringling abwehren kann, liege allein daran, ob sie vital und kräftig genug ist. Und dafür brauche es einen möglichst gesunden Wald.

Wer im Karnap hinschaut, kann schnell erkennen: Wood Wide Web oder nicht, dieser Wald sieht gesund aus. Totes Holz darf herumliegen, abgestorbene, hohle Bäume dürfen stehen bleiben. Der ideale Lebensraum für Vögel und Insekten – außer für den Borkenkäfer, der braucht frisches Holz. Immer wieder erblickt man alte, krumme Bäume mit einem weißen Dreieck auf der Rinde – die Markierung dafür, diese Bäume dauerhaft vor der Kettensäge zu schützen. Nur vereinzelt gibt es Wege, auf denen Erntefahrzeuge oder Bagger fahren dürfen. Am Wegesrand liegen Bäume fürs Sägewerk. Was man aber nirgends sieht, sind Kahlschläge. Im Karnap werden nur einzelne Bäume gefällt und immer weniger, als über einen festen Zeitraum nachwachsen.

All diese Maßnahmen lassen sich unter dem Begriff “naturnahe Bewirtschaftung” zusammenfassen, und Maximilian Scheel möchte zeigen, welche Rolle der Mensch dabei spielt. Eine kurze Fahrt im Geländewagen rüber in den Nadelwald. Der Boden wandelt sich zu einer weichen, federnden Matte aus Moos, grüne Fichten dominieren das Bild, aber auch Lärchen sind zu sehen, ein paar Birken und Kiefern. “Ein Superpotenzial für eine natürliche Verjüngung” nennt Scheel das, weil Förster ähnlich wie Jäger eine eigene Sprache sprechen. Er meint damit: Viele verschiedenen Baumarten werfen hier ihre Samen ab und legen so den natürlichen Grundstein für die nächste Waldgeneration. Könnte sich der Mensch also auch fein heraushalten? Oder: Wofür braucht der Wald den Menschen überhaupt?

“Der Wald kommt von allein klar”, sagt Scheel, “der Natur ist egal, ob hier Fichten nachkommen oder Buchen. Das wird auf jeden Fall wieder Wald.” Bei einer naturnahen Bewirtschaftung gehe es aber darum, dem Wald dabei zu helfen, dass er all die Bedürfnisse auf Dauer erfüllen kann, die der Mensch an ihn richtet.

Überfordern wir den Wald damit nicht? Scheel findet: Nein. “Dieser Wald kann all das schon. Er ist Wasserspeicher, er ist Holzproduzent, er ist Erholungswald.” Seine Aufgabe als Förster sei es, dass der Wald auch den Bedürfnissen künftiger Generationen gerecht werden kann. Deswegen hat Scheel beschlossen, in seinem Nadelwald zu pflanzen. 2000 Spitzahorne, 2000 Bergahorne, 1000 Flatterulmen, einige Wildapfelbäume. Baumarten, die mit dem Klimawandel besser zurechtkommen sollen. In ein paar Tagen kommen die Pflanzer.

Etwa 30 Zentimeter breite Furchen ziehen sich schon jetzt über den Waldboden. Dann knackt ein Ast, Metall scheppert, Eisenketten klirren, und zwischen den Bäumen tauchen zwei Pferde auf. Sie ziehen einen Pflug durchs Unterholz. Neben ihnen läuft ein schlanker Mann mit weißem Bart.

Seit drei Jahren sei der Pferdepflug regelmäßig hier im Einsatz. Er reißt die oberste Schicht des Bodens auf, den Humus, und legt die Mineralschicht darunter frei. Darin setzen die Pflanzer dann die jungen Setzlinge.

Der Mann stoppt seine Pferde, unterhält sich kurz mit dem Förster über den Kauz und den Uhu. Der Mann stellt sich als Jorin vor, Holzrücker könne man seinen Beruf nennen. “Es gibt ganz wenige Leute, die noch so arbeiten.” Wobei, was heißt hier “noch”. “Wieder” treffe es eigentlich besser. Denn was hier aussehe wie aus Großvaters Zeiten, sei total modern. Man könne dieselbe Arbeit zwar auch mit einem Bagger machen, was aber den Boden verdichten und damit dem Wald schaden würde. Daher lieber Pferde als Pferdestärken.

Zum Abschluss möchte Maximilian Scheel noch zeigen, wie die Setzlinge schließlich in den Boden kommen, also eine letzte Fahrt in einen Nachbarwald, in dem die Pflanzer schon arbeiten.

Die sitzen allerdings gerade zu viert in einem Auto mit rumänischem Kennzeichen und machen Mittag. Manchmal braucht eben nicht nur der Wald eine Pause vom Menschen, sondern auch der Mensch vom Wald.